
Via-Alpina Woche 5
Über Höhenwege vom Südtirol ins Zillertal
📏92km, ↗ 5’260m, ↘5’230m
Entlang dem Zillertaler-Hauptkamm
Wie fast jeden Morgen bin ich kurz nach Sonnenaufgang, um viertel nach fünf, wach. Da das Frühstücksbuffet hier im Hotel erst kurz nach sieben bereit ist, drehe ich mich um und döse nochmals kurz weg.
Später beim Check-out bietet mir Robin von der Gastgeberfamilie erneut an, einen Teil mit der Seilbahn zurückzulegen, denn er weiss, dass es mein heutiger Weg in sich hat. Mich erwartet ein gesamter Anstieg von über zweitausend dreihundert Höhenmeter mit über dreiundzwanzig Kilometer Länge. Dennoch! Ich lehne dankend ab und verlasse kurz nach acht Uhr das Hotel.
Vorbei an einem Schloss steigt der Weg zügig an und führt mich durch den Wald.

Es ist wolkenbedeckt und kühl. Was perfekt zu meinem Aufstieg passt und mich gut vorankommen lässt.

Zweieinhalb Stunden und tausend zweihundert Höhenmeter später, führt der Weg auf dem Grat hoch und anschliessend auf und ab über die Berge. Nach dem ersten Gipfelkreuz lasse ich dann auch noch die letzten Wanderer, die mit der Gondel bis zur nahegelegenen Bergstation gefahren sind, hinter mir.
Teilweise erfassen mich starke Böen und ich muss sogar aufpassen, dass mich der Wind nicht vom Grat wegdrückt.

Die Aussicht ist phänomenal und macht den kühlen und starken Wind wieder wett.

Mal geht’s links, mal rechts vom Grat entlang. Immer tauchen wieder neue Bergspitzen auf. Es fühlt sich an wie ein nicht enden wollender Weg.
Rund zwei Kilometer vor meinem heutigen Ziel wird's dann noch anspruchsvoll. Es geht über ein grosses Geröllfeld mit teilweise über einem Meter grossen Felsbrocken. Dabei warnt mich ein Schild vor Steinschlag und ermahnt für zügiges Vorangehen. Leider verliere ich immer wieder die Markierungen aus dem Auge und komme oft vom Weg ab, so dass ich mühsam über grosse Felsbrocken steigen muss, um irgendwie wieder den Weg zu finden.

Nach einem kräftezehrenden letzten Abschnitt erreiche ich dankbar die Hütte und melde mich beim Hüttenwirt Roland. Er empfängt mich herzlich und zeigt mir alles auf seiner Hütte. Obwohl noch fünf andere Gäste hier sind, habe ich das Matratzenlager wieder ganz alleine für mich. Ich richte mich ein, gehe später runter in die Gaststube, trinke ein “Hefele” und komme mit Roland und seiner Familie sowie den anderen Gästen ins Gespräch.
Beim Nachtessen werden wir mit sehr leckerem Essen verwöhnt und erfahren dabei, dass die Knödel mit der Gabel oder dem Löffel “geschnitten” werden und nicht mit dem Messer.

Den ganzen Abend lang erzählt die Gastgeber-Familie aus ihrem Nähkästchen. Dabei erfahre ich so viel Spannendes, Wertvolles und Lustiges, dass ich alleine daraus einen eigenen Beitrag schreiben könnte.
Kurz bevor wir alle ins Bett huschen, gibt’s den bei ihm noch obligaten hauseigenen Schnaps. Er verwendet dabei als Grundlage Grappa und veredelt ihn eigenhändig mit Bergblumen. Ich wähle “Speik” und bin positiv vom einzigartigen Geschmack überrascht. Nach diesem genussvollen Abschluss gehe ich zufrieden ins Bett.
Während dem Frühstück am nächsten Morgen tausche ich mich nochmals mit Roland bezüglich meiner Routenwahl aus. Denn er hat mir gestern Teile des Neveser- und Pfunderer-Höhenwegs empfohlen, anstatt der offiziellen Via-Alpina-Route, ins Tal und später wieder hinauf, zu folgen. So entscheide ich mich kurzerhand für Teile dieser beiden Höhenwege um, obwohl, oder eben gerade weil mir bewusst ist, dass diese Höhenwege anspruchsvoller und schöner sein sollen als die Standard-Route im Tal.
Kurz nach acht geht's los in Richtung Gletscher. Nach einer knappen Stunde führt der Weg durch eine Gletschermoräne und an einem kleinen Gletscherrandsee vorbei. Weiter unten kann ich später auch noch den hiesigen Stausee erkennen, zu dem ich eben auf der Standardroute abgestiegen wäre.

Der Höhenweg gefällt mir und bietet etliche spannende Passagen, darunter auch die Querung eines Baches.
Ich bleibe, wie immer vor etwas schwierigeren Abschnitten, stehen, begutachte die Umgebung und suche nach Alternativen. Ich erkenne, dass die Passage über den Bach mit Stahlseilen geführt ist und ich diesen so sicher queren kann. Doch leider gibt es einen Haken dabei. Es wird wohl unvermeidlich sein, dass ich nasse Füsse bekomme.
So schleife ich meine Stöcke um die linke Hand, taste mich langsam voran und merke, wie griffig der Boden ist. Es gelingt mir dann tatsächlich, das kurze Stück zügig zu queren, ohne wie erwartet literweise Wasser im Schuh zu haben. Zu meinem Erstaunen wurde nur meine Hose nass.

Nach einer kurzen Mittagspause bei der Edelrauthütte geht's weiter auf dem Pfunderer-Höhenweg. Doch vorher erkundige ich mich, auf Rat von Roland, über die Bedingungen zur Überquerung der Gaisscharte. Dies ist auf meinem Teil des Höhenweges die gefährlichste und anspruchsvollste Stelle.
Die Hüttenwartin der Edelrauthütte gibt mir grünes Licht und teilt mir mit, dass die Bedingungen gut, doch anspruchsvoll seien. Ich bedanke mich bei ihr und ziehe los in Richtung Gaisscharte.
Die Route führt über Geröll und Felsbrocken dem Höhenweg entlang.

Mir gefallen solche “Wege” ungemein. Meine Stöcke habe ich an meinem Rucksack verstaut, denn die bringen mir hier in diesem Gelände nicht mehr sonderlich viel.
So hüpfe ich schon fast wie ein junger Steinbock über die Felsen und geniesse es, wie mich die Route über immer anspruchsvollere Untergründe führt.
Bis ich dann vor eben dieser Gaisscharte stehe, zu ihr hochblicke und merke, wie meine Augen zu leuchten beginnen.

Voller Vorfreude prüfe ich kurz, ob alles an meinem Rucksack sitzt und klettere die Scharte hoch. Der Weg, oder eben die Kletterpassage, ist mit einer Kette gesichert und dient mir als Steighilfe. Nach weniger als fünf Minuten bin ich bereits oben, blicke hinunter durch die Scharte auf die andere Seite und geniesse den Moment.


Die Scharte ist sehr schmal und führt mich auf der anderen Seite über Felsbrocken, Geröll und Bäche leicht bergab.

Weiter unten, erblicke ich schon von Weitem, mitten auf einer Schafweide auf knappen zweitausend zweihundert Meter über Meer, mein Tagesziel, ein Biwak.
Als ich näher komme, bemerke ich schnell, dass niemand hier ist und ich es für mich alleine geniessen darf. Es ist schon fast ein luxuriöses Biwak mit kleiner Küche, Geschirr, Gaskochfeld, Holzofen, einem kleinen Essensvorrat und vielen weiteren Annehmlichkeiten.
Doch ich brauche von all dem nichts, da ich ja selbstversorgerisch unterwegs bin. Ich koche mir ein Gemüserisotto, lasse den Abend gemütlich ausklingen und ziehe mich kurz nach sieben Uhr abends ins Biwak zurück. Also kurz nachdem die wärmende Sonne hinter den Bergen verschwunden ist und ein kühler Wind aufkommt.

Die Nacht ist kühl und ich erwache immer wieder. Teilweise ist mir kalt trotz Hüttenschlafsack, drei Wolldecken und einer unbequemen Schaumstoffmatratze. Ich schlafe schlecht wie schon lange nicht mehr!
Am nächsten Morgen bin ich müde und merke, dass sich mein Körper nicht richtig erholen konnte. “Hätte ich doch nur meine Isomatte und meinen Quilt verwendet, dann hätte ich besser geschlafen”, denke ich mir. “Doch dies nützt mir jetzt nichts!”, sage ich leise zu mir und kann mich trotz meiner Müdigkeit und Verspannung nach meinem Frühstück motivieren loszuziehen. Ich finde sogar noch etwas Energie für ein müdes, aber zufriedenes Selfie.

Der heutige Weg führt mich über zwei Scharten hinab in ein Tal und dann aufs Pitsch-Joch hinauf. Die beiden Scharten, die ich heute queren werde, sind normale Wege ohne Kletterpassagen.
Zuerst steigt der Weg steil zur ersten Scharte hoch und dann wieder leicht bergab. Wieder führt mich der Höhenweg durch wilde Bäche, die ich teilweise nur weiter oben sicher queren kann.

Auf dem Aufstieg zur zweiten Scharte treffe ich auf Schnee. Widerwillen kreuze ich die Altschneefelder und umgehe diese, wo möglich. Ich bin immer noch leicht verspannt von der Nacht, müde und spüre zunehmende Kopfschmerzen.

Nach der zweiten Scharte muss ich rund neunhundert Höhenmeter ins Tal absteigen, um dann wieder fünfhundert zur heutigen Hütte aufsteigen.
Unterwegs biege ich wieder in die “richtige” Via-Alpina ein und bin sozusagen wieder "back on track”. Beim Aufstieg zur Hütte erhasche ich, mit einem Blick zurück durch den Wald, nochmals die zweite Scharte, die ich oben bei den schneebedeckten Spitzen in der Ferne überquert habe.

Am frühen Nachmittag erreiche ich mein Ziel beim Pfitsch-Joch, kurz vor der österreichischen Grenze und bin auch froh darüber. Denn meine Kopfschmerzen haben sich verstärkt. So beziehe ich mein Bett und lege mich zur Entspannung zuerst einmal hin.
Am späten Nachmittag drehe ich noch eine Runde ums Haus und erkunde die Umgebung um die Hütte. Die Hüttenwirte sind freundlich und hilfsbereit, doch man spürt, wie touristisch es hier oben ist. Eine klassische Hütte ist dies aus meiner Sicht nicht. Denn Sauna und Duschen sind vorhanden und inklusive. Auch beim Abendessen sitzt jede Gruppe oder Person für sich wie im Restaurant und es kommt zu keinem Austausch mit anderen Gästen. Einzig mit meinen vier Zimmergenossen komme ich ins Gespräch.. Sabrina mit ihrer Freundin, die eine Woche mit ihrem Rad unterwegs ist, Thorsten, der zwei Nächte hier bleibt und die Gegend bewandert, sowie Katharina, die übers Fronleichnam-Wochenende wandern geht.
Am nächsten Morgen bin ich gegen sechs Uhr wach, drehe mich um und sehe, wie Katharina bereits auf ihrem E-Reader liest. Vermutlich ist sie schon seit fünf Uhr wach, denn ihr liegt das Fenster direkt zu ihren Füssen.
Ich habe super geschlafen und meine Verspannungen sowie Kopfschmerzen sind weg. Der Blick beim Frühstück aus dem Fenster motiviert mich und lässt eine gewisse Vorfreude auf die heutigen zwei Etappen aufkommen.

Denn heute überquere ich die Grenze nach Österreich, steige in zwei Tagesetappen ab ins Zillertal nach Finkenberg und darf dann vier Tage mit Doris geniessen ohne zu wandern.
Zillertal
Doch zuerst muss ich tausend achthundert Höhenmeter und knappe dreissig Kilometer hinter mich bringen. Der Weg ist gut begehbar und führt mich langsam bergab. Kurz nach dem Verlassen der Hütte überquere ich die Grenze nach Österreich. Da kommen mir auch bereits die ersten Wanderer und Biker entgegen, die vermutlich unten beim Stausee ihr Auto geparkt haben.
Wie ich am Nachmittag erfahre, kostet nicht nur das Parken unten beim Stausee, sondern auch die Maut für die Benützung der Strasse bis zum See. Da bin ich froh, bin ich zu Fuss unterwegs.
Mein Weg führt mich direkt neben der Staumauer des Schlegeisspeichers hinunter bis unterhalb der Staumauer und dann weiter entlang des Zamser Bach, immer tiefer ins Zillertal hinab.


Bis zu meinem Tagesziel bleibt der Weg abwechslungsreich und macht ihn so kurzweilig und interessant.

In Finkenberg ist dann für heute Schluss. Die zwei Tagesetappen sind geschafft. In vier Tagen geht's dann hier wieder weiter, doch zuerst darf ich gemütliche Tage mit Doris verbringen.
Ich nehme Bus sowie Zug und fahre weiter ins Tal hinab. Beim Besteigen des Zuges überrascht mich dieser dann doch ein bisschen. Die Lok ist noch dieselbetrieben, denn Oberleitungen gibt es keine und die Fahrkarten müssen bei der Schaffnerin im Zug gekauft werden.

Am Bahnhof Zell am Ziller wartet Doris bereits auf mich. Als ich aussteige, fallen wir uns glücklich in die Arme und freuen uns beide riesig auf einige Tage Zweisamkeit. Später lassen wir den Abend zusammen im Hotel und bei leckerem Essen ausklingen.
Nach einem ausgiebigen Frühstück fahren wir am nächsten Morgen um circa zehn Uhr für einen Tagesausflug nach Innsbruck. Kurz nach der Ankunft in Innsbruck versuchen wir bei der Post noch ein Paket, welches ich bestellt habe, umzuleiten, da es vermutlich nicht bis Montag im aktuellen Hotel ankommen wird. Die Postbeamtin kann mir leider nicht weiterhelfen und so versuchen wir noch in der Postfiliale, das Paket auf eine Paketstation in Schwaz umzuleiten. Denn dort sollte ich dann Mitte nächster Woche sein. Nach etlichen Online-Verifizierungsversuchen mit ID und Gesichtsscan klappt's und mein Paket wird umgeleitet.
Anschliessend geht's in einen Waschsalon, damit ich meine Kleidung wieder einmal kräftig mit einer Maschine waschen kann. Ich muss meine ganze Kleidung sogar gleich zweimal waschen, um allen Schweiss und Dreck richtig rauszubekommen. Übrigens: Doris hat mir Kleidung mitgenommen, so dass ich während ihres Besuchs auch mal was anderes anziehen kann.

Am Nachmittag lassen wir uns intuitiv durch Innsbruck treiben und geniessen unter anderem Sightseeing, bevor es dann am Abend mit dem Zug zurück ins Zillertal geht.
Für Samstag wie auch für Sonntag haben wir nichts geplant und geniessen einfach die gemeinsame Zeit. Da Doris Minigolf liebt, darf natürlich eine Partie nicht fehlen. Doch auch wenn sie gerne Minigolf spielt und dies wohl die schönste und gepflegteste Minigolfanlage ist, die ich bisher angetroffen habe, die Partie gewonnen, habe ich. 😉

Die Zeit vergeht wie im Flug und schon ist Sonntagabend. Morgen fährt sie zurück nach Hause und für mich geht's zurück auf die Via-Alpina.

Übrigens: Heute Vormittag habe ich beschlossen, dass ich morgen Montag noch nicht von Finkenberg starten werde, da am Nachmittag starke Regenfälle und Gewitter aufziehen. Wenn ich morgen Abend vor dem Gewitter in der geplanten Hütte sein möchte und die Zeit für Bus, Zug und Wandern einrechne, müsste ich reintheoretisch um fünf aufstehen und ohne Frühstück losziehen.
So gehe ich es ruhig an und werde am frühen Montagnachmittag in Finkenberg eine Unterkunft beziehen und meine nächsten Tage planen, um dann am Dienstagmorgen direkt von dort weiterzuziehen.
Nachklang
Auch wenn ich meine eigene Erwartungshaltung von mindestens hundertzwanzig Kilometer und fünf tausend Höhenmetern pro Woche (sechs Wandertage) nicht ganz erreicht habe, war es eine anspruchsvolle und erfüllende Woche. Zum einen waren es die anspruchsvollen Wege und Kletterpassagen, die mein Herz hören schlagen liessen und zum anderen die Zweisamkeit mit Doris.
Ich muss mir selbst eingestehen, dass auch mal eine Woche ohne das Erreichen meiner eigenen Erwartungshaltungen erfüllend sein kann. Das fällt mir nicht leicht und ich merke, wie ich mich als Rechtfertigung damit abfinde, dass ich ja nur vier Tage unterwegs war und nicht die “normalen” sechs.
In der kommenden Woche führt mich die Via-Alpina über die Berge des Zillertals hinab ins Inntal und dann weiter hinauf ins Gebirge von Karwendel und dessen Naturpark. Einmal quer durchs Tirol bis vor die deutsche Grenze in Bayern.
Bis dahin, liebe Grüsse aus dem Zillertal. ✌🏼
Sascha
