Via-Alpina Woche 10

Via-Alpina Woche 10

Sonntag, August 3, 2025

Von Österreich quer durchs Engadin nach Italien

📏158km, ↗ 6’830m, ↘ 6’530m

Quer durchs Silvretta-Gebirge

Es ist schon wieder Montagmorgen. Für heute Vormittag ist viel Regen angekündigt und so schlafen vermutlich die anderen Hotelgäste aus. Denn Doris und ich sind die Ersten beim Frühstück und so haben wir ein riesiges Buffet vorerst für uns ganz alleine.

Gegen zehn Uhr checken wir aus dem Hotel aus und laufen zum Dorfladen, um noch etwas Kleines einzukaufen. Dann heisst es leider wieder Abschied nehmen. Ich laufe los, bevor der Bus eintrifft, um so den Abschied etwas leichter zu gestalten. Einige Male schaue ich zurück und winke ihr zu und sie lächelt zurück. Bis ich schliesslich hinter der Hausecke verschwinde und in den Wald aufsteige.

Heute führt mich der Weg durchs Vergaldatal zur Tübinger-Hütte. Ich komme an Flüssen und Bächen vorbei, die vom starken Regen letzte Nacht zeugen und sehr viel Wasser führen.

Zum Glück sind meine Wege nicht überflutet und so komme ich gut voran. Hinten im Talkessel, auf knapp zweitausend zweihundert Meter über Meer, wird mein Weg zur linken Hangseite hin steiler.

Weiter oben treffe ich heute auf meine erste Herausforderung. Ein tosender Bach, den ich queren muss und nur mit einem Kletterseil gesichert ist. Wie so oft prüfe ich meine Optionen und finde keinen passenden Umweg über den Bach. So wage ich bewusst aber zügig zwei, drei Schritte durchs Wasser und halte mich am Seil fest.

Ich komme nass, aber sicher auf der anderen Seite an. Dank meinen neuen, wieder wasserdichten Schuhen, den montierten Gamaschen und den zügigen Schritten blieben zu meinem Erstaunen meine Füsse trocken.

Die matschigen Wege führen mich weiter, hoch aufs Joch und dann über rutschige Wege hinab auf ein Geröllfeld. Ich bin froh, dass der Abstieg mit Ketten gesichert ist und ich so gut aufs Geröllfeld hinunterkomme.

Knapp eine Stunde bevor ich in der Tübinger-Hütte eintreffe, entdecke ich diese in der Ferne am anderen Talhang. Etliche Bäche und nochmals ein Geröllfeld später treffe ich in der Hütte ein und kann auch gleich einchecken.

Ich bin in einem Fünfer-Zimmer eingeteilt und erkundige mich, ob denn die anderen vier als Gruppe kommen. Der junge Herr bestätigt und so wähle ich das Bett, welches mit einer Leiter drei Meter weiter oben liegt. Ich richte mich ein, gehe in die Hüttenstube und schreibe an meinem Blog.

Die Tische sind hier wieder dem Zimmer zugeteilt und so sitze ich am Tisch Nummer sechs. Dreissig Minuten später treffen dann auch meine Zimmergenossen ein. Eine dänische Familie mit zwei Kindern. Wir kommen ins Gespräch und tauschen uns über ihre Touren und mein Vorhaben aus. Sie stellen interessiert Fragen und spielen später noch das Kartenspiel "Fünfhundert", von dem ich übrigens bisher noch nie etwas gehört habe. Ich beobachte gespannt und schon bald darauf wird das Nachtessen serviert.

Später spielen wir zu fünft noch einige Runden “Uno” und gehen bald ins Zimmer hoch. Wie so oft muss abends vor dem zu Bett gehen die Übernachtung, allfällige Halbpension oder Frühstück sowie sonstige Konsumation bezahlt werden. Beim Zahlen lerne ich einen jungen Herren, der hinter mir ansteht, kennen und erfahre, dass er und seine Freundin dieselbe Via-Alpina-Route laufen wie ich. Begeistert davon, erfahre ich weiter, dass sie beide heute einen Ruhetag auf der Hütte eingelegt haben und morgen weiterziehen. Wir unterhalten uns noch eine kurze Weile und wünschen uns bald darauf eine gute Nacht.

Oben im Zimmer ist die dänische Familie fast bereits bettfertig. Ich erfahre, dass sich die Tochter zwei Blasen an den kleinen Zehen eingefangen hat. So werde ich gefragt, ob ich denn Pflaster dabei habe. “Klar”, antworte ich und hole zwei Blasenpflaster aus meinem Notfallset, die ja bei mir bisher sowieso nicht zum Einsatz kamen. So hoffe ich, dass die Pflaster ihre Schmerzen morgen lindern werden. Denn sie wird mit Markus, ihrem Vater, einen Klettersteig besuchen, während Mutter und Sohn in der morgigen Hütte die Zeit geniessen werden.

Die Nacht ist ruhig und ich bin um halb sechs bereits wach. Da es erst um sieben Frühstück gibt, döse ich wieder weg. Um viertel vor sieben wache ich wieder auf und packe meine Sachen grob zusammen. So bin ich kurz nach sieben unten in der Hüttenstube beim Frühstück. Die Stimmung ist gut und es läuft fetzige und motivierende Musik in der Stube. Etwas, das ich bisher so auf einer Hütte noch nicht erlebt habe. Irgendwie erinnert mich das an meine Rekrutenschule. Denn dort hat unser “Küsche” (Küchenchef) jeden Morgen lautstark Musik abgespielt und so vermutlich versucht uns einen gelungenen Start in den Tag zu bieten. Was ihm übrigens, zumindest bei mir, fast immer gelungen ist.

Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von der Familie und treffe draussen vor der Hütte das junge Paar wieder, das eben auch die Via-Alpina wandert. Ich starte kurz nach ihnen und hole sie bei einem späteren Rast wieder ein. Das Wetter verspricht heute viel Sonnenschein und so habe ich gleich zwei Tagesetappen geplant.

Zuerst geht's übers “Hochmaderer-Joch” zum Silvretta Stausee und dann über die “Getschnerscharte” hinunter zur "Jamtalhütte". 

Oben beim Joch kann ich in der Ferne den Stausee und dahinter knapp noch die Berge sehen, wo die Scharte liegt, von der ich dann zur Hütte absteigen werde. “Sieht schon noch weit aus”, sage ich leise zu mir und steige kurz vor halb zehn vom Joch ins Tal ab.

Weiter unten ist mein Weg gleichzeitig auch ein Bach. Ich durchquere ein Hochmoor und steige langsam zum Stausee auf. Dabei muss ich etliche Bäche queren, die mal einfacher und mal schwieriger zu begehen sind.

Kurz vor dem Stausee lege ich meine Mittagspause ein und esse ausgiebig. Danach telefoniere ich kurz mit Doris und steige zum Stausee auf. Ich komme an vielen geparkten Autos vorbei und sehe einige Touristen, die ich kurze Zeit später wieder hinter mir lasse.

Der Weg führt mich seitlich am Stausee vorbei und dann parallel zu einem Fluss den Berg hoch. Es ist kurz nach Mittag und mich erwarten noch knappe tausend Höhenmeter Anstieg und dahinter achthundert Abstieg. Motiviert steige ich auf und muss einige Male meine Wasserreserven nachfüllen.

---
Damit ich nicht jeden Tag kiloweise Trinkwasser mit mir herumschleppen muss, habe ich einen Wasserfilter dabei, um unterwegs meine Wasserreserven nachzufüllen.

So schaue ich morgens kurz auf die Karte, um zu wissen, ob und wo es unterwegs Wasser-Nachschub gibt. Dementsprechend weiss ich, mit wie viel Wasser ich plus minus starten muss. Natürlich spielt dabei das Wetter auch eine entscheidende Rolle. Denn bei einem Aufstieg mit viel Sonnenschein brauche ich teilweise dreimal so viel Wasser wie ohne Sonnenschein und mit Nebel.
---

Weiter oben, auf circa zweitausend fünfhundert Meter über Meer, wird der Weg wieder steinig und führt durch ein Geröllfeld. Wie ihr ja mittlerweile wisst, genau mein Ding! Und so freue ich mich auf diese letzten paar hundert, anspruchsvolleren Höhenmeter und steige freudig bergauf zur Scharte.

Noch die letzten Schritte und schon ist es geschafft. Ich stehe oben auf der Getschnerscharte. Mein bisher höchster Punkt auf meiner Via-Alpina, auf knapp zweitausend achthundertvierzig Meter über Meer. In der Ferne sehe ich bereits die Schweizer Berge des Engadins, wohin ich morgen wandere. 

Morgen werde ich Österreich verlassen. Neben Deutschland, Liechtenstein und Slowenien ist es bereits das vierte Land, welches ich für den Rest meiner Via-Alpina hinter mir lasse.

Mittlerweile ist es kurz vor drei Uhr nachmittags. Ich brauche sicher noch gute zwei Stunden bis ich unten bei der Hütte bin und so mache ich mich auf den Weg bergab. Zuerst über Geröll und Felsen, mit sogar wieder kleinen Kletterpassagen. Später wird der Weg grüner und führt mich über alpine Wiesen. Die Wege sind hier teilweise wieder Bäche, was meinen Abstieg erschwert.

Beim Abstieg entdecke ich mein heutiges Tagesziel auf der gegenüberliegenden Talseite, die Jamtalhütte. Ich steige weiter ab und dann passiert es. Ich stürze! 

Reflexartig lasse ich meine Stöcke fallen und fange mich mit den Händen auf. “Puh, Glück gehabt, pass doch besser auf!”, sage ich laut zu mir. Denn links geht's den Abhang hinunter. 

Aufgrund des vielen Wassers auf dem Weg muss ich wohl einen Fehltritt ins Gras gemacht haben und erwischte dabei einen versteckten Hauseingang eines Murmelis, was wohl dazu führte, dass ich das Gleichgewicht verlor und stürzte.

Weiter unten quere ich noch einen reissenden Fluss und steige dann rund hundert Höhenmeter zur Hütte auf. Ich checke ein und quassle mit der netten Dame beim Empfang. Sie erklärt mir alles sehr fein säuberlich und fragt mich, ob ich denn zum Nachtessen und Frühstück mit anderen Gästen am Tisch sitzen möchte oder lieber zu den Intellektuellen gehöre und gerne meine Ruhe habe. Ich entscheide mich für den Tisch mit anderen Gästen, stecke meinen Hüttenschlafsack in die Mikro und laufe ins Dachgeschoss zum Zimmer zehn.

Dort richte ich mich bei meinem Bett mit der Nummer zwölf ein und treffe eine niederländische Familie, die auch hier im Zwölfer-Schlag übernachtet und sich ebenfalls am Einrichten ist. Wir unterhalten uns kurz, worauf sie runtergehen und ich mich fertig einrichte.

Unten in der Hüttenstube setze ich mich an meinen Tisch und halte unauffällig Ausschau nach den “Intellektuellen”. Doch ich kann sie leider nicht entdecken und bestelle etwas zu trinken.

Kurz vor dem Nachtessen setzen sich drei Deutsche zu mir an den Tisch. Yannick, der Sohn von Peter sowie Michael, der Freund von Peter (Ich hoffe, ich habe nun Peter und Michael nicht vertauscht 😉). Wir unterhalten uns über das Wandern, ihre Tour und mein Vorhaben. Sie fragen mich dazu aus und wir witzeln dabei über verschiedene Dinge. Ich merke schnell, dass sich Michael bezüglich Gepäck ein wenig auskennt. Wie ich erfahre, hat er bereits viele Radtouren unternommen und sein Gepäck teilweise so optimiert, dass es nicht zu viel wiegt. Wobei er betont, dass er da noch einiges mehr einsparen könne. Der Abend vergeht wie im Flug und gegen neun Uhr abends ziehe ich mich zurück und mache mich bettfertig.

Am nächsten Morgen treffe ich beim Frühstück wieder die drei Herren sowie das junge Paar, das ich bereits getroffen habe und auch die Via-Alpina läuft. Bevor ich nach dem Frühstück aufs Zimmer gehe, setze ich mich kurz zu den beiden hin und wir plaudern einige Minuten. Aus dem Gespräch heraus weiss ich nun, dass ich die beiden heute Abend wieder auf dem Camping in Scuol treffen werde. Ich verabschiede mich von ihnen, hole mein Gepäck, schnüre meine Schuhe und starte in den neblig und kühlen Morgen.

Der Weg führt mich langsam den Hügel hoch und schon knapp zweihundert Höhenmetern weiter oben bin ich aus der Nebelsuppe raus. Die Sonne wärmt, der Nebel sitzt im Tal fest und ich steige motiviert zum "Futschölpass" hoch.

***

Engiadina Bassa Val-Müstair

Auf dem Pass, auf über zweitausend siebenhundert Meter über Meer, weht mir ein kühler Wind entgegen. Ich überschreite die Grenze zur Schweiz und verabschiede mich leise und zum letzten Mal von Österreich. Weiter oben entdecke ich noch den Futschöl-Gletscher, doch steige ich nach nur wenigen Minuten zügig auf die Schweizer Seite ab, um dem Wind zu entkommen.

Vor mir liegt nun ein Abstieg von über tausend fünfhundert Höhenmeter und dreiundzwanzig Kilometern bis nach Scuol. Ich muss mich nun am Riemen reissen, damit ich nicht zu schnell absteige und morgen Schmerzen habe. Mir gelingt dies besonders bei Geröllfeldern des Öfteren weniger gut. Denn da hüpfe ich manchmal schon fast wie eine Gemse über die Felsen und spüre dies dann jeweils am Abend in den Beinen. Deshalb nun: “Langsam absteigen Sascha, du hast genug Zeit” sage ich immer wieder zu mir. So steige ich gemächlich ab und kann die öde und doch faszinierende Landschaft noch mehr geniessen als sonst.

Weiter unten wird der Weg weniger alpin und führt mich wieder vermehrt über Wiesen. Die Sonne spielt hinter den Wolken verstecken und erzeugt mit dem leicht kühlen Wind ein wunderbares Wanderwetter. 

Kurz nach drei Uhr bin ich in Scuol, kaufe Proviant ein und mache mich auf zum nahegelegenen Campingplatz. Auf dem Weg dorthin überquere ich zum zweiten Mal den Inn, den ich ja bereits in Schwaz überqueren musste, um ins Karwendelgebirge zu gelangen.

Ich baue mein Zelt auf und lasse den Nachmittag und Abend gemütlich ausklingen. Nach meinem Nachtessen treffe ich auf der Rückkehr vom Abwasch wieder das junge Via-Alpina-Pärchen. Endlich finden wir Zeit, um uns etwas länger auszutauschen und ich erfahre auch ihre Namen. Fasziniert plaudern wir über verschiedene Dinge und Problemchen, die uns unterwegs begegnen. Wir tauschen Nummern aus, um in Kontakt zu bleiben und ich erfahre, dass ich sie morgen eventuell wieder in Val-Müstair treffe, falls nicht, habe ich ja nun ihre Nummer, um ihnen zu schreiben. Wir wünschen uns einen angenehmen Abend und ich verabschiede mich von Verena & Constantin. 

Zurück bei meinem Zelt treffe ich noch auf meinen Zeltnachbarn Lars, der sich offenbar mit Camping- und Ultraleicht-Equipment auskennt. Denn er erkennt sofort, dass mein Zelt aus dem Material Dyneema gefertigt ist. Er erzählt mir, dass er bisher bei verschiedenen Outdoor-Ausrüster arbeitete und fragt fasziniert nach, was ich alles dabei habe. Wir plaudern noch eine ganze Weile, bis er sich zurückzieht und ich schlafen gehe.

Gemütlich liege ich auf meiner Isomatte, zugedeckt unter meinem Quilt und höre dem prasselnden Regen zu. Ich finde den Schlaf nicht und warte auf das anrollende Gewitter. Die Abstände zwischen Donner und Blitz werden immer kürzer. Meine Wetter-App zeigt mir an, dass sich die Gewitterzelle genau über Scuol hinweg bewegt. Kurze Zeit später schlägt der Blitz irgendwo in der Nähe ein, denn der Donner folgt zeitgleich. Der Regen prasselt weiter auf mein Zelt und irgendwann schlafe ich dann doch ein.

Etwas müde und dennoch motiviert, packe ich am nächsten Morgen mein Zelt nass ein, winke beim Verlassen des Campingplatzes noch kurz Verena & Constantin zu und steige durch den noch tropfenden Wald den Berg hinauf.

Heute habe ich gleich zwei Tagesetappen, mit etwas mehr als fünfundreissig Kilometer, nach Val-Müstair geplant. Dass ich dort dann einen Zero-Day einlegen werde, weiss ich aktuell noch nicht, doch dazu gleich mehr. Der Weg führt mich zuerst in den Wald und anschliessend in die Clemgia-Schlucht, wobei wegen Erdrutschen leider ein Teil davon gesperrt ist. Danach geht's weiter ins gleichnamige Tal, das bereits zum Schweizer Nationalpark gehört. Unterwegs lege ich einen Rast ein und entdecke spezielle Formen, die vermutlich durch Erosionen und Hangrutsche entstanden sind.

Hinten im Tal bei “S-charl” lege ich einen zweiten Rast ein und gönne mir in einem Gasthaus eine leckere Bündner Gerstensuppe. Nach dieser Stärkung nehme ich die noch verbleibenden zwei Drittel der heute geplanten Route in Angriff und wandere durch wild-romantische Landschaften, die meiner Vorstellung vom Schweizer Nationalpark genau entsprechen.

Der Weg führt mich hoch auf den “Pass da Costainas” auf rund zweitausend zweihundertfünfzig Meter über Meer und dann mit sanftem Abstieg hinunter in Richtung Val-Müstair.

Unterwegs laufe ich durch “Lü” und bin etwas verwundert, denn ich wusste nicht, dass es Ortschaften in der Schweiz gibt, die nur zwei Buchstaben enthalten. Gibt es wohl auch solche mit nur einem, frage ich mich und komme kurz vor halb sechs in Val-Müstair an.

Eigentlich wollte ich ja zu Beginn des Tages noch auf den Campingplatz hier im Ort. Doch unterwegs habe ich mir die Möglichkeiten für einen Ruhetag auf meinen nächsten Etappen durchgedacht und keine passende Lösung gefunden. So verschiebe ich meinen Ruhetag nun einige Tage vor und geniesse zwei Nächte im herzigen Örtchen Val-Müstair in einem Hotel.

Am nächsten Morgen frühstücke ich wieder sehr ausgiebig, wie so oft in Hotels und setze mich anschliessend an die Planung der nächsten sieben bis zehn Tage. Denn solange werde ich voraussichtlich keinen Zero-Day mehr einlegen. Am Nachmittag gehe ich im lokalen Laden einkaufen und schreibe an meinem Blog.

Der Tag vergeht schnell und schon ist wieder Abend. Ich ordne meine Sachen, damit ich morgen nicht alles zusammensuchen muss und gehe zeitig ins Bett.

Kurz nach dem Frühstück checke ich aus und steige mit Regen in Richtung Umbrailpass an. Die Dame an der Rezeption meinte noch, dass es auch einen Bus hoch gebe, doch wie schon des Öfteren lehne ich ab und weiss nicht genau, ob die Leute, die mir dies anbieten, das auch verstehen. 🙃

Auf relativ unspektakulären Wegen und teils auch auf der offiziellen Passstrasse für den motorisierten Verkehr, steige ich zum Umbrailpass auf. Es regnet ununterbrochen und nach knapp zehn Kilometer nassen Wiesen bergauf habe ich oben auf dem Pass, auch trotz meiner Gamaschen, Pools in den Schuhen.

Weiter spüre ich, wie ich durch den Anstieg leicht ins Schwitzen gekommen bin. Heisst, ich bin auch unter der Regenjacke feucht. Beim alten Zollamt muss ich, trotz ungemütlichem Wetter, einen kurzen Rast einlegen, um meine Energiereserven aufzufüllen. Wenige Minuten und viele Kalorien später packe ich alles wieder ein und laufe weiter. Denn auszukühlen ist jetzt sehr ungünstig.

***

Provinz Sondrio, Italien

Ich überschreite die Grenze nach Italien, wobei mich der Weg nun noch weiter hinauf zur "Bocchetta di Forcola” auf über zweitausend siebenhundert Meter über Meer führt. Das Wetter ist immer noch gleich scheisse wie schon den ganzen Morgen. Meine Motivation sinkt merklich. Zu all dem kommt noch hinzu, dass ich während dem Aufstieg leicht zu frieren beginne. So versuche ich als erstes mein Tempo zu erhöhen, um wieder in den “warmen” Zustand vor der Pause zu kommen. Nach rund zehn Minuten gelingt mir dies und ich friere nicht mehr, trotz Regen, nasser Kleidung und Pools in den Schuhen. Doch meine Motivation hat sich leider nicht verbessert.

Oben auf dem Pass bläst mir ein eisiger, nur drei Grad kalter Wind entgegen. Er peitscht mir schmerzhaft den Schneeregen ins Gesicht und ich beginne wieder zu frieren. Mein Körper kann unter diesen Umständen nicht mehr genügend Wärme produzieren, ich muss also dringend etwas ändern! Ich überlege mir meine Optionen und entdecke in der Ferne etwas weiter unten eine alte Behausung.

Mein Plan: Windschutz suchen, mein trockenes Schlaf-Shirt anziehen, Schuhe ausleeren und Socken auswringen.

Die alte Behausung stellt sich beim Annähern als Militär-Gebäude aus dem Ersten Weltkrieg heraus und bietet mir vorerst sicher guten Windschutz. Doch als ich absteige, lässt der Wind nach. Dennoch steuere ich weiter auf das Gebäude zu und merke, wie mir wieder warm wird. Im etwas gruseligen Gebäude überlege ich mir dann ganze zehn Minuten lang, ob ich denn nun an meinem Plan festhalten soll. Denn so riskiere ich natürlich, dass meine Schlafkleidung nass wird.

Da ich noch nicht weiss, ob ich wildcampe oder in einem Rifugio (Hütte) übernachten kann und der Wind ja nachgelassen hat, entscheide ich mich gegen einen Kleiderwechsel und leere nur meine Schuhe.

Unterwegs bergab lässt der Regen nach. Gute zwei Stunden später bin ich dann unten beim geplanten Stausee. 

Zum Wildcampen ist mir aktuell nicht freiwillig zu Mute, trotz trockener Schlafkleidung. 😉 So steuere ich auf das nahe gelegene Rifugio zu, welches aber leider keinen Schlafplatz mehr frei hat. Sie verweisen mich auf ein Restaurant, das knapp fünfzehn Minuten Fussmarsch entfernt liegt. Ich ziehe also unverrichteter Dinge weiter und stelle mich schon mal darauf ein, dass dieses auch voll ist und ich allenfalls trotzdem unfreiwillig ins Wildcamp muss.

Doch das Glück ist wieder auf meiner Seite! Sie haben im Nachbarhaus ein einfaches Zimmer, wo ich übernachten kann. Ich freue mich riesig! So beziehe ich das Zimmer, esse im Restaurant mein Nachtessen und gehe früh und zufrieden ins Bett.

Gestärkt und vor allem trocken, starte ich am nächsten Morgen in den Tag. Meine Planung führt mich heute wieder in zwei Tagesetappen und auf unspektakulären Wegen durch die italienische Provinz Sondrio in ein Rifugio.

Die Wege führen mich dabei vormittags hauptsächlich durch Wälder und über Forststrassen. Kurz nach halb eins lege ich eine ausgedehnte Mittagspause ein und esse ausgiebig.

Gegen Nachmittag steigt der Weg an und ich bemerke bereits das zweite Mal, dass die Baumgrenze hier höher liegt als die mir bekannten tausend achthundert Meter über Meer. Nach einer kurzen Internet-Recherche finde ich heraus, dass die Baumgrenze im Engadin und hier in Norditalien bis auf zweitausend dreihundert Meter über Meer liegen kann.

Nach einem Abstieg auf tausend siebenhundert Meter über Meer entdecke ich kurz vor der Hütte eine Schlange. Ich habe bereits mehrfach Schlangen getroffen, doch ist dies die Erste, die sich fotografieren lässt. Unsicher bin ich mir, ob ich da eine ungiftige Schlingnatter oder eine giftige Kreuzotter getroffen habe.

Als ich um vier Uhr nachmittags in der Hütte eintreffe, ist das Team gerade beim Essen. Ich warte und erkundige mich später, ob sie denn noch ein freies Bett haben. “Ja klar”, meint der Einzige, der etwas Englisch spricht. Denn meine Italienisch-Kenntnisse sind für solche Fragen auf italienisch zu gering. Wie sich später herausstellt, bin ich heute sogar der einzige Gast und so fühle ich mich ein bisschen zurückversetzt, wie damals Ende Mai, als die Saison noch nicht gestartet war. Später geniesse ich das Nachtessen, ziehe mich früh zurück und gehe schlafen.

***

Nachklang

Wie diese Zero-Days, also komplette Tage ohne Wandern, sowas wichtiges und wertvolles sind, erstaunt mich immer wieder. Teils erschöpft komme ich an, geniesse Luxus wie eine Dusche sowie ein eigenes, bequemes Bett und setze voller Energie zwei Nächte später meine Tour wieder fort. Mein Kapital auf dieser Weitwanderung ist ganz klar ein gesunder und leistungsfähiger Körper, der zwischendurch auch Ruhe zur Regeneration braucht.

Des Öfteren wird mir bewusst, wie dankbar ich auf meine Gesundheit bin und wie wichtig es ist, auf Signale des Körpers zu achten. Solche Situationen, wie diese oben auf der Bocchetta di Forcola, versetzen mich nicht in Angst oder Panik, sondern lassen mich immer noch klar denken. Vielleicht auch, weil ich merke, dass ich noch weit von meiner Grenze des Machbaren entfernt bin. Und das ist auch gut so. Denn mein Ziel ist es nämlich nicht, bewusst Grenzerfahrungen zu machen, sondern die Grenzen in der Ferne zu sehen und zu wissen, dass da noch ein Puffer vorhanden ist. Weiter spannend ist auch meine Erfahrung, dass sich diese Grenzen verschieben und sie immer weiter in die Ferne rücken. Warum, kann ich mir aktuell noch nicht abschliessend erklären, vielleicht weil sich meine Komfortzone verschoben hat und ich mich vermehrt darin aufhalte.

Wie ihr vielleicht bemerkt habt, bin ich aktuell etwas im Verzug mit meinen Berichten, ich hoffe ihr nehmt es mir nicht übel. 😉

Nächste Woche bin ich weiterhin viel in der Provinz Sondrio in Italien unterwegs und durchquere bei Poschiavo kurz die Schweiz. Wobei ich gegen Ende der Woche erneut die Grenze zur Schweiz überquere und am Rande des Unterengadin in der Region Viamala unterwegs sein werde.

Bis dahin, liebe Grüsse aus der Region Viamala im Engadin ✌🏼

Sascha

Zu diesem Artikel gibt es noch keine Kommentare
Suchen